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Koch Stéphane und seine Meerestier-Phobie

"Die seltsame Geschichte eines Kochs und wie er seine Angst vor Meerestieren überwand."


Die Bretagne, dieser gottverlassene Streifen Land, wo der Atlantik wie ein betrunkener Riese gegen die Klippen donnert, wo die Luft so salzig ist, dass sie dir die Zunge austrocknet und nach Tang und Verzweiflung schmeckt. Hier, in dieser rauen Ecke der Welt, strandete Stéphane, ein junger Koch mit einem Funken Größenwahn in den Augen und einem Magen voller Träume. Ein Angebot hatte ihn hergelockt, ein Job in einem dieser Feinschmeckerläden, wo die Teller wie Kunstwerke aussehen und die Rechnungen wie Todesurteile. Er wollte es schaffen, wollte seinen Namen in die Sterne kochen, aber da war dieser Schatten, der ihn wie ein alter Kumpel begleitete – eine Angst, die ihm die Knochen weich machte und ihm nachts den Schlaf raubte.

Stéphane war kein gewöhnlicher Typ. Er hatte Talent, konnte mit einem Messer umgehen wie ein Dichter mit Worten, aber da war diese verdammte Phobie, die ihm wie ein rostiger Nagel im Schädel steckte. Meeresfrüchte. Krebse, die in seinen Träumen zu Monstern wurden, mit Scheren, die nach seiner Seele schnappten. Austern, die sich in seinen Albträumen öffneten wie hungrige Mäuler, glitschig und gierig, bereit, ihn zu verschlingen. Es war keine rationale Angst, nein, es war etwas Tiefes, etwas, das in seiner Kindheit Wurzeln geschlagen hatte, vielleicht an einem Strand, wo ihn die Wellen fast mitgerissen hatten, oder in einem Moment, den er längst vergessen wollte. Doch das Schicksal, dieser sadistische Bastard, hatte ihn ausgerechnet in ein Restaurant gespült, das für seine Meeresküche gefeiert wurde. Austern, Hummer, Muscheln – ein Paradies für Gourmets, eine Hölle für Stéphane.

Das Geld war gut, verdammt gut sogar. Es winkte mit Versprechen von Ruhm und einem besseren Leben. „Scheiß drauf“, knurrte er sich selbst zu, während er seine Kochjacke anzog und sich für den Kampf wappnete. „Ich werd’s schon packen.“ Aber die Wahrheit war, er hatte keine Ahnung, worauf er sich einließ. Das Restaurant war ein Schlachtfeld, ein Ort, wo seine Ängste nicht nur existierten, sondern lebendig wurden. Jeder Krebs, den er aus dem Tank zog, starrte ihn an, als wüsste er von seinen Träumen. Jede Auster, die er öffnete, schien zu flüstern: „Du kannst mir nicht entkommen.“ Nachts, wenn er nach Hause wankte, sah er ihre Schatten an den Wänden, hörte das Klacken ihrer Scheren in der Stille.

Um nicht durchzudrehen, griff Stéphane zum ältesten Trick der Menschheit: der Flasche. Morgens ein Schluck, um die Nerven zu beruhigen. Mittags ein Glas, um die zitternden Hände zu bändigen. Abends eine Flasche, um die Welt auszublenden. Der Alkohol war sein Schild, sein verdammter Ritter in schäbiger Rüstung, der die Monster in Schach hielt. Aber er machte ihn auch schlampig, langsam, und die anderen Köche warfen ihm Blicke zu, die sagten: „Reiß dich zusammen, Mann.“ Doch wie sollte er das anstellen, wenn jede Schicht ein Tanz auf dem Seil war, mit dem Abgrund seiner Ängste direkt unter ihm?

Eines Nachts, als das Restaurant seine Türen schloss und die letzten Gäste in die kalte bretonische Nacht verschwanden, fand sich Stéphane in einer Gasse wieder, die nach Pisse und billigem Wein stank. Eine Spelunke, halb Kneipe, halb Höllenloch, zog ihn an wie ein Magnet. Die Typen dort sahen aus wie Wracks, die das Meer ausgespuckt hatte – Fischer mit Gesichtern wie zerknittertes Leder, Trinker mit Augen, die nichts mehr erwarteten. Stéphane passte perfekt rein. Er kippte Glas um Glas, billiger Fusel, der wie Feuer in der Kehle brannte, aber die Krebse und Austern für einen Moment in den Hintergrund drängte. Die Welt wurde weich, die Kanten verschwammen, und für ein paar Stunden war er frei.

Irgendwann, als die Sterne über der Bretagne wie kalte Nadeln am Himmel hingen, torkelte er aus der Kneipe. Die Straßen waren ein Labyrinth, die Welt ein Karussell, das sich zu schnell drehte. Seine Füße trugen ihn, ohne dass er wusste, wohin, bis er plötzlich auf einer alten Brücke stand. Unter ihm tobte das Meer, schwarz und wild, ein hungriges Biest, das nach ihm rief. Er starrte in die Wellen, und etwas in ihm – vielleicht der Alkohol, vielleicht die Verzweiflung – flüsterte: „Spring.“ Er wusste nicht, wie es geschah, wusste nicht, ob er fiel oder sprang, aber plötzlich war er im Wasser, eingehüllt von der Kälte, die ihm die Lunge zusammendrückte.

Das Meer war kein Freund. Es war ein Moloch, ein endloser Schlund, der ihn hinabzog in seine Tiefen. Die Strömung zerrte an ihm, seine Arme ruderten verzweifelt, aber das Wasser war stärker. Seine Lunge schrie nach Luft, sein Herz hämmerte wie eine Trommel, und in diesem Moment, als die Welt dunkel wurde, sah er sie: die Krebse, die Hummer, die Austern, all die Kreaturen, die ihn seit Jahren heimsuchten. Sie schwebten um ihn herum, ihre Schalen glänzten im fahlen Licht, das von irgendwoher durchs Wasser brach. Er wollte schreien, aber da war kein Ton, nur das Rauschen des Ozeans, das wie ein Chor aus tausend Stimmen klang.

Und dann, inmitten dieses Albtraums, erschien sie – eine Meerjungfrau, halb Frau, halb Mythos, mit Augen, die wie der Horizont leuchteten. Sie nahm seine Hand, ihre Finger kalt und doch seltsam tröstlich, und führte ihn durch die Dunkelheit. Das Meer öffnete sich vor ihnen, ein Universum aus Farben und Formen, wo Krebse nicht länger Monster waren, sondern Wesen mit Geschichten in ihren Augen. Hummer schwebten wie alte Weise, ihre Scheren sanft wie die Hände eines Großvaters. Und die Austern – Gott, die Austern – öffneten sich nicht, um ihn zu verschlingen, sondern um ihm ihre Perlen zu zeigen, schimmernd wie Tränen des Meeres. „Sieh uns“, schienen sie zu sagen. „Wir sind nicht deine Feinde.“

Die Meerjungfrau sprach, ihre Stimme wie das Flüstern der Wellen. „Du hast uns gefürchtet, weil du uns nicht kanntest. Aber wir sind Teil von dir, Teil dieser Welt.“ Stéphane fühlte, wie etwas in ihm brach – nicht wie ein Knochen, sondern wie eine alte Kette, die ihn jahrelang gefesselt hatte. Schuld, Angst, die Schatten seiner Kindheit, all das löste sich auf in diesem endlosen Blau. Die Kreaturen des Meeres scharten sich um ihn, nicht drohend, sondern wie Freunde, die ihm sagten: „Du bist genug. Du musst nicht fliehen.“ Und die Austern, diese verdammten Austern, flüsterten: „Wir vergeben dir. Koch uns, lieb uns, aber fürchte uns nicht.“

Als er die Augen öffnete, lag er am Strand, nass, durchgefroren, mit Sand im Mund und dem Geschmack von Salz auf den Lippen. Die Sonne kroch über den Horizont, ein blasses Licht, das die Welt in Gold tauchte. Sein Kopf pochte, sein Körper fühlte sich an, wie durch einen Fleischwolf gedreht, aber da war etwas Neues in ihm. Etwas Leichtes. Er setzte sich auf, starrte aufs Meer, und zum ersten Mal seit Jahren hatte er keine Angst. War es ein Traum? Der Alkohol? Oder hatte das Meer ihm wirklich seine Geheimnisse offenbart? Er wusste es nicht, und es war ihm egal. Alles, was zählte, war dieses Gefühl – als hätte jemand eine Tür in seinem Herzen aufgestoßen.

Von diesem Tag an war Stéphane ein anderer Mann. Er schwor der Flasche ab, warf die Krücken weg, die ihn so lange gestützt hatten. Zurück im Restaurant, griff er nach den Krebsen, ohne zu zögern, öffnete Austern mit einer Ruhe, die seine Kollegen sprachlos machte. Seine Hände zitterten nicht mehr, seine Augen waren klar. Er kochte nicht nur, er erschuf. Seine Gerichte waren Hymnen an das Meer, jede Platte ein Liebesbrief an die Kreaturen, die ihn einst gequält hatten. Die Gäste spürten es – diese Magie, diese Ehrfurcht, die in jedem Bissen lag. Stéphane wurde nicht nur ein Koch, er wurde eine Legende, ein Mann, der das Meer auf den Teller zauberte.

Doch die Brücke, dieser Ort, wo er fast ertrunken war, ließ ihn nie los. Immer wieder kehrte er dorthin zurück, in stillen Momenten, wenn die Welt zu laut wurde. Er saß am Ufer, starrte in die Wellen, und manchmal, wenn der Wind richtig stand, hörte er sie – die Stimmen der Krebse, der Hummer, der Austern. Sie antworteten auf seine Fragen, flüsterten ihm Weisheiten, die er nirgendwo anders fand. „Warum leben wir?“ fragte er einmal, und das Meer antwortete: „Um zu lieben, um zu schaffen, um weiterzumachen.“ Und Stéphane nickte, ein Lächeln auf den Lippen, während die Wellen ihm die Füße umspülten. Das Meer war kein Feind mehr. Es war sein Lehrer, sein Zuhause.